Generationen im Dialog – auf einer Reise nach und in Berlin

IMG-20151105-WA0021_(Projektarbeit im Fach Geschichte)

Für ein Projektseminar im Fach Geschichte entschieden sich 18 hoch motivierte Schülerinnen und Schüler unseres Gymnasiums bereits im Schuljahr 2013/2014 und gingen mit ihrer Lehrkraft, StDin i. K. Angelika Schäfer, unter dem Motto „Berlin ist eine Reise wert“ ab dem Schuljahr 2014/15 auf eine gemeinsame Fahrt voller Überraschungen. Die individuellen Beweggründe für die Wahl gerade dieses Seminars waren äußerst unterschiedlich und reichten von der Erwartung, ohne großen Aufwand eine Woche günstigen Urlaub machen zu können bis zu sehr großem historischen Interesse.

Einer der Schüler schreibt z. B. in seinem bemerkenswerten Portfolio, das in der neuen Bibliothek des St.-Michaels-Gymnasiums einzusehen ist: „Wir schreiben das Jahr 1929 – vier Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland – eine Zeit, in die mein Großvater hineingeboren wurde und in der er ab 1933 bis 1945 miterlebte, was es bedeutete, Tag für Tag unter dem Hakenkreuz aufzuwachsen, zur Schule zu gehen und am Ende des Zweiten Weltkriegs als Mitglied des Volkssturms die Heimat zu verteidigen. All das teilte er mir mit, so dass ich bereits im frühen Kindesalter erfuhr, was er als kleiner Junge und später als Heranwachsender erleben musste. Durch sein Engagement und seine Offenheit gegenüber der Vergangenheit weckte mein Großvater mein Interesse an der Geschichtswissenschaft, weshalb ich das Projektseminar Geschichte gewählt habe. Die Stadt Berlin verkörpert für mich dabei einen Knotenpunkt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“

Dieser Schüler hatte das Glück, dass er einen Zeitzeugen in der Familie hatte, der sich bereitwillig mit ihm über einen schwierigen Abschnitt der deutschen Geschichte austauschte. Ca. siebzig Jahre nach Kriegsende ist das nicht mehr selbstverständlich. Um im Jahr 2015 an das Kriegsende vor siebzig Jahren zu erinnern, veranstaltete das Anne-Frank-Zentrum Berlin in acht deutschen Städten eine Zeitzeugenbefragung; sechs Deggendorfer Schulen und auch das St.-Michaels-Gymnasium Metten nahmen an dieser Zeitzeugenbefragung teil. Jede Schülerin und jeder Schüler waren beeindruckt davon, wie tief die Erinnerungen an eine gefahrvolle Vergangenheit mit Flucht und Vertreibung im Kindesalter und dem Verlust von Heimat und Angehörigen sowie der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten reichen und wie unterschiedlich ihre Interviewpartner- und -partnerinnen ihre schweren Erlebnisse verarbeitet haben. Während der eine Zeitzeuge heute in seiner Gartenarbeit Ruhe und Zufriedenheit findet, fängt die andere Zeitzeugin heute noch zu weinen an, wenn sie an den Bombenhagel im Berlin der Vierziger Jahre denkt und an die Gewalt, die als Kind ihre tägliche Begleiterin war. Gerade für Jugendliche im 21. Jhdt. in Deutschland in ihrer friedlichen Umgebung ist es eine ganz besondere Erfahrung, wenn sie feststellen, dass die Kriegsbilder, die unsere Medien prägen, für ihre Verwandten in ihrer Kindheit ein tägliches Erlebnis waren.

Um die Nachhaltigkeit unseres Projektes sicherzustellen, setzten die sieben Arbeitsgruppen in Deggendorf und Metten die Ergebnisse der Zeitzeugenbefragung nicht nur in einer Geschichtsmeile im Dachgeschoß des Stadtmuseums um und das schon im April 2015. Ihr Arbeitseifer reichte noch weiter bis in das Schuljahr 2015/16 und brachte ein Lesebuch hervor, das am Freitag, 19.02.2016,  in einem Festakt im historischen Saal des Deggendorfer Rathauses vorgestellt wurde. Das letzte Wort im Lesebuch hat der Großonkel eines Mitglieds unseres Projektseminars: „Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn Jung und Alt einen Informations- und Erfahrungsaustausch betreiben. Wir sind auf die Hilfe der Jungen angewiesen (bei Laptop und PC). Umgekehrt ist es sicher für euch kein Schaden, wenn ihr erfahrt, dass die Zeit nicht immer so gut und einfach war und die Versorgung allein mit Lebensmitteln und Brennstoffen nicht immer so selbstverständlich war wie heute. Also, ich denke, dass die beiden Seiten von diesem Austausch profitieren und ich freue mich und fühle mich geehrt, dass ich Euch als Interviewpartner hab helfen dürfen.“ Das Lesebuch ist ab April auch in der neuen Bibliothek des St.-Michaels-Gymnasiums Metten einzusehen.

 Und was hat das jetzt alles mit der Planung und Organisation einer Berlinfahrt zu tun? Das fragte sich der eine oder andere Teilnehmer unseres Seminars immer wieder. Eine Antwort erhielt er während der Fahrt beim Besuch des Anne-Frank-Zentrums in Berlin in der Rosenthaler Str. 39 bei der U-Bahn-Station Hackesche Höfe. In einem typischen Berliner Hinterhaus im zweiten Stock eröffnet sich einer Besuchergruppe eine umfangreiche Ausstellung zum Leben von Anne Frank. Es wird nicht nur in den Zusammenhang mit der deutschen Geschichte in den Vierziger Jahren des 20. Jhdts. gestellt, sondern auch in Bezug zum Leben eines heutigen Jugendlichen.

In einem Workshop erfuhren unsere Teilnehmerinnen von der schönen Kindheit Annes, die ihr Vater in zahlreichen Fotografien festhielt. Erst mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande änderte sich Annes Leben und sie musste sich mit ihrer Familie im Hinterhaus des elterlichen Betriebes verstecken. Sie lebte eingeengt, bekam nur selten etwas zu essen und musste sich ihr Zimmer mit einem anderen Bewohner teilen. Zwei Jahre lang war sie mit ihrer Familie und deren Freunden in diesem winzigen Haus eingesperrt und lebte in ständiger Angst. Davon legt ihr Tagebuch bis heute Zeugnis ab. In den nächsten Wochen kommt dazu auch eine Neuverfilmung von Anne Franks Leben in die Kinos, sicher auch ins Deggendorfer Lichtspieltheater. Unsere Besuchergruppe war ergriffen vom Schicksal Annes und ihrer Angehörigen und fragte sich zum Schluss der Veranstaltung, wen es dafür braucht, dass so etwas Schreckliches passieren konnte und wer daran beteiligt war. Es ist unvorstellbar, wie viele Leute Mitschuld haben an so vielen grausamen Morden, war ihr Fazit. Sie setzte sich im letzten Raum der Ausstellung mit der Frage auseinander, welche Ängste heutige Jugendliche weltweit haben und wie sie mit ihnen umgehen und stellte fest, dass der Besuch des Anne-Frank-Zentrums in Berlin ein Highlight unserer Berlinfahrt war. Dafür gebührt der Leitung und den Verantwortlichen dieses Instituts unser besonderer Dank.

Der Besuch des Anne-Frank-Zentrums fand in der Mitte unserer achttägigen Fahrt statt, für die wir sogar die Hälfte der Allerheiligenferien 2015 opferten. Dadurch konnten wir unsere Hauptstadt, das geteilte Berlin, die Stadt der Alliierten und der Hohenzollern während des Zweiten deutschen Kaiserreichs in vollen Zügen genießen. Wer kann schon von sich sagen, durch den Flughafen Berlin Tempelhof, das Alliiertenmuseum, das DDR-Museum, die Berliner Unterwelten geführt worden zu sein, auf einer dreieinhalbstündigen Radtour durch Berlin Kreuzberg an einem kalten windigen Dienstagmorgen die „Szene“ gesucht zu haben, um anschließend in Konnopkes Imbiss eine typische Berliner Currywurst als „kleines Menu“ zu genießen. Natürlich fehlten auch das Brandenburger Tor, der Reichstag und das Holocaust-Mahnmal nicht. An einem der Abende besuchten wir eine moderne Aufführung von Gotthold Ephraim Lessings Drama „Nathan der Weise“. Die restlichen Abende standen zur freien Verfügung und wurden entweder für einen regen Austausch mit der einheimischen Bevölkerung genutzt oder für zahlreiche Erlebnisse mit der multikulturellen Vielfalt der Stadt Berlin.

Auch bei dieser Berlinfahrt stellte die Reisegruppe immer wieder fest: „Berlin ist eine Reise wert.“ Und das gilt am St.-Michaels-Gymnasium Metten immerhin bereits seit dreißig Jahren. Und auch im nächsten Schuljahr startet wieder ein Projektseminar Berlinfahrt. Mal sehen, welche Überraschungen dann auf die Reisegruppe warten!